Wer Grenzen setzt, entzieht nur den Zugriff auf die eigene Verfügbarkeit

 

… und stört das Machtgefüge.

"Das hätte ich von dir nicht erwartet."

Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört, weil ich plötzlich eine Grenze gezogen habe oder weil ich mich nicht mehr (weg)erklärt oder Dinge nicht mehr weggelächelt habe. Wie oft habe ich erlebt, dass Menschen irritiert reagiert haben, weil ich, die sonst verbindlich, freundlich und verständnisvoll ist, plötzlich einfach nur klar wurde? Wie oft flogen dann Sätze wie "Ich bin schockiert über deinen Ton" oder "Von dir hätte ich das nicht erwartet"?

Dabei hätte die eigentliche Frage doch "Was ist passiert, dass du jetzt das Bedürfnis hast, diese Grenze so klar zu ziehen?" lauten müssen.

Pflegen wir möglicherweise eine Arbeitskultur, in der Freundlichkeit oft mit Verfügbarkeit verwechselt und in der Empathie bewundert wird, solange sie nicht unbequem wird? Freundlichkeit ist kein Freifahrtschein für respektloses Verhalten!

Die Irritation hinter klaren Grenzen

Viele Menschen sind irritiert, wenn die Person, die sonst den Raum hält, plötzlich den Raum verlässt oder ein klares "Bis hierhin und nicht weiter." vermittelt.

Steht diese Irritation vielleicht sinnbildlich dafür, wie sehr man sich an das stille, selbstverständliche und empathische Funktionieren dieser Menschen gewöhnt hat? Und ist es nicht auch eine Frage von Macht? Denn in dem Moment, in dem sich jemand abgrenzt, verschieben sich Verhältnisse. Nicht jeder, der schockiert reagiert, ist verletzt. Manche spüren schlicht, dass sie keinen Zugriff mehr haben.

Im Coaching, in Workshops und in Gesprächen mit anderen Menschen erlebe ich es immer wieder: Die größte Irritation entsteht dort, wo Menschen aufhören, sich selbst zu verlassen und beginnen, sich ernst zu nehmen.

Leider ist das, was dann folgt meist kein echtes Gespräch mehr, sondern Widerstand, Angriff oder Abwertung!

Und genau hier liegt ein blinder Fleck in vielen Organisationen und Teams, ganz besonders, wenn in diesem Zusammenhang über psychische Gesundheit oder Kommunikation auf Augenhöhe gesprochen wird, denn diese Begriffe verlieren ihre Bedeutung in dem Moment, in dem niemand bereit ist, die Konsequenzen zu tragen, wenn genau das fehlt.

Echte Freundlichkeit braucht Selbstachtung

Unsere Gesellschaft braucht keine Menschen, die ihre Freundlichkeit ablegen sollten, sondern Menschen, die lernen, sie zu bewahren, ohne sich selbst dafür zu opfern und die verstehen, dass echte Freundlichkeit nicht darin besteht, sich kleinzumachen, sondern zu wissen, wann sie nicht mehr angebracht ist. Und es braucht Führung, die diesen Unterschied erkennt, die Klarheit nicht als Bedrohung deutet, sondern als Chance, echte Beziehungen und Wachstum zu gestalten.

Wer am Ende irritiert ist, wenn ein Mensch seine Grenze setzt, hat sich womöglich zu lange an dessen Selbstverleugnung gewöhnt, und wer Freundlichkeit nur schätzt, solange sie gefällig ist, will keine Beziehung sondern Kontrolle und wer Menschen verliert, weil sie sich endlich selbst ernst nehmen, hat sie nicht an ihre Klarheit verloren sondern daran, dass sie ihre Pflicht, Menschen zu schützen und zu halten, nicht erfüllt hat!

Zurück
Zurück

"Falsche" Fragen gibt es nicht!

Weiter
Weiter

Ein Baum fällt nicht an der Krone